RÜDIGER NEHBERG – EIN BRIEF

Lieber Rüdiger,

Du hast mich 38 Jahre lang im Herzen begleitet. Ich weiß es noch genau, damals, 1983, bekam ich eines deiner ersten Bücher geschenkt: „Yanonami – Leben im Urwald“. Ich war sofort Feuer und Flamme. Vier Jahre später habe ich selbst erstmals meinen Fuß in den Dschungel Südamerikas gesetzt und Du warst gedanklich mit dabei. Deine lebhaften Schilderungen haben mich vom ersten Tag an fasziniert und diese Faszination ist bis heute geblieben.


Wir beide sind Bielefelder und wollten der Enge, der bürgerlichen Umgebung und der biederen Spiessigkeit Ostwestfalens entkommen. Wir beide haben uns für eine gewerbliche Ausbildung entscheiden, Du als Konditor, ich als Druckformhersteller. Du tauschtest Marzipan gegen Moskitos und schriebst erfolgreich Geschichten aus der „Welt der Torten und der Torturen“. Verbunden hat uns das unerbittliche Fernweh und die Suche nach dem extremen Abenteuer. Du hast meine Sehnsucht nach Freiheit, Ferne und Abenteuer geschürt, nach Exotik und der unbekannten Natur.Ich habe immer bedauert, dass wir, bedingt durch den großen Altersunterscheid von fast dreissig Jahren, nie gemeinsam losziehen konnten. Ich glaube, wir wären ein tolles Team geworden. So konnte ich nur aus der Distanz an deinen Expeditionen teilhaben. Dutzende von Büchern hast Du über deine packenden Reisen und Dein kunterbuntes Leben verfasst und ich habe sie großteilig verschlungen.


Im Laufe von zwanzig Jahren habe ich vielen deiner Live-Vorträge beigewohnt, in Heidelberg, Stuttgart, Bielefeld, Hamburg und Münster. Du warst ein begnadeter Redner und ich hing, wie hunderte andere Besucher auch, atemlos an deinen Lippen. Ob Stromschnellen, Begegnungen mit Riesenschlangen oder Raubüberfälle – niemand vermochte so schön von irren Reiseerlebnissen erzählen wie Du. Du, der Verrückteste unter den Abenteurern, warst dabei immer glaubwürdig, authentisch und echt – für mich ein absolutes Vorbild, dem ich heute noch versuche, gerecht zu werden und nachzueifern.


Mehrfach habe ich mich nach deinen Auftritten mit dir zusammengesetzt, um Details bestimmter Ziele zu diskutieren und von deinen einzigartigen Erfahrungen zu profitieren. Das war vor allem im Vorfeld meiner ersten Äthiopien-Expedition im Jahr 2000, was Du bereits bei der Durchquerung der Danakil-Wüste im Jahr 1977 in viel größerem Maßstab erfolgreich geschafft hast.

Eine Wahnsinnsleistung. Respekt! Ein weiteres Mal, wenige Jahre später, diskutierten wir lebhaft über meinen (später leider gescheiterten) Versuch, zu den Yanonamis im Süden Venezuelas vorzudringen. Du hast dir immer viel Zeit für meine Fragen genommen. Du hast mich ernst genommen und mir immer gerne wertvolle Tipps gegeben. Diese Nahbarkeit, ehrliche Bodenständigkeit und fast hemdsärmelige Art, machte dich trotz deines großen Bekanntheitsgrades so sympathisch.

Du hast dich immer akribisch auf deine ebenso grenzwertigen wie strapaziösen Expeditionen vorbereitet, nichts dem Zufall überlassen, und bist dabei mit selbstauferlegten harten Prüfungen an deine körperlichen Grenzen gegangen. Das Ergebnis war dein Ehrentitel „Sir Vival“. Deine „Kunst des Überlebens“ traf den Nerv einer ganzen Generation – zurück zu den Ursprüngen. Und wenn ich heute in Neuguinea eine Buschratte verspeise, muss ich immer an dich denken, wie Du als auf deinem legendären Deutschland-Marsch ohne Geld die plattgefahrenen Igel von der Straße gekratzt und aufgegessen hast. Herrlich. Wo andere schauderten, warst und bist Du für mich eine Inspiration und entsprcehnd versuche ich, mein Denken und Handeln an deinen Maximen auszurichten.

Du warst und Du bist für mich der Inbegriff des echten Abenteurers. Kein Weg zu weit, keine Herausforderung zu groß. Zivilisation versus Wildnis, das war dein Credo. Dem unstillbaren Drang zum Ursprünglichen folgend, liesst du alle Lockungen der konsumbelasteten Wohlstandskultur hinter dir, gingst in Urwälder und Wüsten, um dich durchzuschlagen. Du wurdest Deutschlands bekanntester Überlebenskünstler und aus dem Abenteurer und Philanthropen Rüdiger Nehberg wurde über Jahrzehnte eine Marke.

Bewundert habe ich Zeit meines Lebens dein vielfach ausgezeichnetes, humanitäres Engagement für die unterdrückten, indigenen Menschen der Welt. Erst warst Du nur Abenteurer, dann Augenzeuge und später Menschenrechtsaktivist. Dein Leben hat sich positiv verändert, als Du erkannt hast, dass dir die selbstsüchtige Erfahrung des Reisens nicht mehr genügt und Du begannst, deinen Aktionen einen tieferen Sinn zu geben. Du hast deine wachsende Popularität geschickt genutzt, um, dich für bedrohte Völker einzusetzen und um auf globale Missstände hinzuweisen.

Vor einer Woche, am 1. April 2020, bist Du im Alter von 84 Jahren gestorben und hast deine letzte Reise angetreten. Wer weiß, vielleicht wirst du nun im Jenseits Abenteuer erleben, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen vermag. Du hinterlässt eine Lücke.