EIN BUCH FÜRS LEBEN – PAPILLON

Die bunt bemalte „Dunstabzugshaube“, die Birgit in ihrem Ethno-Rätsel Nr. 2 thematisierte, stammt aus dem Land, in dem meine Abenteuer-Karriere im zarten Alter von 22 Jahren begann: Französisch Guayana. Schon beim Schreiben dieser beiden Worte bekomme ich eine Gänsehaut und fühle mich direkt wieder in den geheimnisvollen Dschungel Südamerikas versetzt. Wer hätte gedacht, dass ein alter Reader´s Digest-Band von 1970 mein ganzes Leben auf so dramatische Weise für immer verändern würde.

Ich war fünfzehn und notorische Schul-Unlust machte sich breit. Die Zensuren rutschten in den Keller und das ärgerte meine Mutter, eine passionierte Englisch-Lehrerin. Sie sagte, wenn du im Englischen besser werden willst, lies englische Bücher. Ich dachte nur „Nein! Nicht auch das noch!“ Aber dann zauberte sie aus ihrem furchteinflößend großen Bücherschrank jenes Werk hervor, dass mir nach heißgeliebten Jahren mit Karl May´s Old Shatterhand nochmals die Augen für das wahre Abenteuer öffnete. Der literarische Brandstifter hiess „Papillon“.

Geschildert wird das überaus abenteuerliche Leben von Henri Charrière zwischen 1933 und 1945 im Nord-Osten Südamerikas. Seine unglaublich packend geschilderten Fluchtversuche aus den mörderischen Straflagern Französisch-Guayanas und vor allem von der legendären Teufelsinsel, liessen mich nicht mehr los. Der Roman landete 1970 auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, doch das interessierte mich damals überhaupt nicht. Mich faszinierten die schwarz-weißen Abbildungen in dem Buch, anhand derer mir immer klarer wurde, dass Papillons Lebensgeschichte keine Ausgeburt seiner blühenden Fantasie war, sondern harte Realität. Da wollte ich hin. Das musste ich selbst sehen.

Ich wurde älter, doch Papillon war nicht vergessen. Im Gegenteil. Als Erwachsener habe ich nie aufgehört, von Abenteuern zu träumen. Doch beim Träumen wollte ich es nicht belassen. 1985 sah ich dann eher zufällig Franklin J. Schaffners grandiose Verfilmung aus dem Jahr 1973 mit den kongenialen Schauspielern Dustin Hoffman und Steve McQueen. Dieses filmische Ereignis festigte meinen Jahre zuvor gefassten Entschluss, den ich mit 22 Jahren direkt nach meiner Lehrzeit in die Tat umsetzte. Ich flog mit einem One-Way-Ticket nach Französisch Guayana, um auf den Spuren des Helden meiner Kindheit zu wandeln.

Was ich in den vielen Wochen in diesem kleinen Land erlebte, war prägend für mein ganzes Leben. Die vorsichtigen Erkundungen der Hauptstadt Cayenne, wo der Pfeffer wächst; die eilige Flucht vor Wachsoldaten, als ich am Zaun der Raketenabschussbasis von Kourou herumlungerte; die halsbrecherische Überfahrt zu den Sträflingsinseln Royale und St-Joseph; das bedrückende Gefühl, zwischen den verfallenen, überwucherten Gefängnissen meines Romanhelden zu gedenken.

Dann die Begegnungen mit abstoßenden Fremdenlegionären, kernigen Goldsuchern und verrückten Buschnegern. Mein Gott, ich fühlte mich wie ein Kind im Süßigkeitenladen. Alles um mich herum war neu, einzigartig und unbeschreiblich. Französisch Guayana – der Inbegriff der Fremde, der Exotik, des Abenteuers. Und der unschuldige Christian aus Bielefeld mutterseelenallein mittendrin. Ich fühlte mich manchmal selbst fast wie ein entflohener Sträfling, der sich seinen Weg durch den dichten Dschungel bahnen musste, um seine Freiheit zu finden.

Jedesmal, wenn ich diese exotisch verzierte Dachluke einer typischen Boni-Hütte ansehe, die mir Jahre später ein Freund aus Französisch Guayana mitbrachte, und die heute eine Wand in meiner Küche schmückt, werde ich an meine Zeit auf dem Maroni-Fluss erinnert. Ich kann es selbst kaum glauben, wenn ich mir die Bilder ansehe, aber so hat alles begonnen. Deshalb habe ich die Ereignisse, die sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt haben, auch genauso für mich niedergeschrieben: https://reisen-bis-ans-ende-der-welt.com/wp-content/uploads/2020/02/Reisebericht_FranzGuayana_7.pdf

Ohne „Papillon“ wäre mein Leben vielleicht nicht farblos verlaufen, aber es wäre ein völlig anderes geworden.