Ein Nachmittag in Island – Vom Wert des Alleinseins

Verlockend türmen sich die steil aufragenden Berghänge des engen Talkessels von Seydisfjördur vor mir auf. Das Nachbartal des Fjords erscheint mir vielversprechend. Vom Hafen führt nur eine kleine Schotterpiste talauswärts. Da es in diesem kleinen Örtchen weder Taxen noch öffentliche Verkehrsmittel gibt, gehe ich zu Fuß. Das macht mir nichts aus – ganz im Gegenteil, ich liebe es! Der Himmel ist grau und wolkenverhangen und es nieselt ein wenig, aber das stört mich nicht. Ich laufe gerne allein auf einsamen Landstraßen. Sie sind verheißungsvoll, wenn sie sich im Nichts verlieren. Vorbei an rostigen Wellblechbaracken zur Fischverarbeitung verschwindet der pittoreske Ort schnell aus meinem Gesichtskreis.

Die Piste windet sich entlang der Wasserkante und zieht sich deutlich mehr in die Länge als erwartet. Da ich meine begrenzte Zeit so effektiv wie möglich mit eigentlichem Wandern zu angeblich schönen Wasserfällen nutzen möchte und nicht mit der Anreise auf einem eher unattraktiven Schotterweg vertrödeln will, beschließe ich, zu trampen, während ich gemütlich weiter vor mich hintrotte. Trampen ist bei der extrem niedrigen Autofrequenz leichter gesagt als getan, doch ich habe Glück und schon der zweite Wagen hält. Es ist der lokale Zollinspektor, der mich in seinem Dienstwagen mitnimmt. Er bereitet die Ankunft einer Autofähre vor, die in zwei Tagen aus Dänemark hier eintreffen soll. Nach zehn Minuten setzt er mich an den Ruinen einer vor fünfzig Jahren aufgegebenen Siedlung ab und zeigt auf einen Weg, der sich nach links oben ins Gelände schlängelt. Endlich geht es so richtig los, also rein ins Gelände.

Der Weg entpuppt sich als relativ guter Wanderpfad mit Beschilderung durch kleine, farbige Holzpfähle, die alle paar hundert Meter im Boden stecken. Oberhalb eines schönen kleinen Wasserfalls gibt es eine hölzerne Aussichtplattform. Heute ist jedoch niemand da, was vermutlich an der unbeständigen Wetterlage liegt. Umso besser, denn so habe ich dieses kleine, naturbelassene Stückchen Island nur für mich allein. Vor mir liegt ein weit geöffnetes, grünes Tal und mein Weg schlängelt sich immer entlang des herrlich anzusehenden Bachlaufes.

Ich wandere langsam und träge, eigentlich ist es eher ein gemütliches Schlendern. Nichts drängt mich, ich habe Zeit und kein festes Ziel. Ich lasse es einfach auf mich zukommen, wohin mich der Weg führt. Der Untergrund ist weich und federnd, der Regen hat aufgehört und die ersten Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch die Wolkendecke. Ich drehe mich um und blicke zurück auf die unberührten Berge auf beiden Seiten des Fjords, dessen kräuseliges Wasser silbrig zu schimmern beginnt und dann in die Endlosigkeit des Nordmeers übergeht. Auch der Blick nach vorne zeigt keinerlei Anzeichen von Zivilisation. Ich bin ganz allein inmitten einer atemberaubenden Natur. Die Bergflanken schimmern in den schönsten Grüntonen und die niedrige, arktische Vegetation besticht durch Kriechgewächse, Moose und Flechten, die den von Gletschern rundgeraspelten Felsen zu seltsam anmutenden Mustern verhelfen.

Die unendlichen Beerensträucher voller süßer Früchte wechseln gerade zu ihren Herbstfarben und tauchen die leicht hügelige Landschaft in ein wahres, pastelliges Farbenmeer, das kein Maler sich hätte schöner und lieblicher vorstellen können. Es ist paradiesisch. Rechts von mir plätschert der Wildbach, der sich immer mal wieder durch Stromschnellen und kleinere Fallstufen bemerkbar macht und zum Verweilen einlädt. Ansonsten herrscht Stille und nichts stört meine Ruhe im Einklang mit der Natur.

Es ist vor allem die völlige Abwesenheit von Menschen, die mich innerlich zur Ruhe kommen lässt. Ein paar Kilometer weiter verengt sich das Tal und ich erahne schon, dass es hier einen größeren Wasserfall geben wird, der auf mich wartet. Kein anderes Land auf der Welt hat ein so üppiges Überangebot an bilderbuchartigen Wasserfällen wie Island. Ich hatte recht. Ein schmaler Trampelpfad verschwindet hinter hohen Felsen und offenbart nach wenigen Minuten Kletterei den freien Blick auf einen Kessel aus schwarzem Basalt, aus dem zwischen einer Felsspalte eine weiße Wasserwand etwa zehn Meter tief in ein schäumendes Becken fällt. Die Luft ist frisch und feucht und es riecht herrlich erdig. Direkt vor dem natürlichen Pool sind die Felsen mit dicken, saftigen, hell- und dunkelgrünen Moospolstern bedeckt.

Die Farben sind so unnatürlich, dass man seine Begeisterung kaum zurückhalten kann. Warum auch? Ich glaube, ich habe sogar laut gejauchzt. Vielleicht ein Bild mit Selbstauslöser, um mich später an diesen denkwürdigen Moment zu erinnern? Gedacht, getan. Schwierig jedoch, einen passenden und stabilen Platz in erhöhter Position für meine Kamera zu finden und dann innerhalb von zehn Sekunden auch noch rechtzeitig über den glitschigen Untergrund vor das fallende Wasser zu huschen. Nach drei Versuchen ist das gewünschte Bild endlich im Kasten.

Trotz des wunderschönen „Geheimplatzes“ beschließe ich, weiter zu laufen, doch der Weg verliert sich irgendwo im Nichts. Denselben Weg einfach wieder zurück zu gehen, liegt mir nicht. Die grobe Orientierung habe ich im Kopf: einfach Richtung Westen, der Sonne entgegen, um die schroffe Bergspitze herum und dann zur Straße hinababsteigen. Das wird schon. Los gehts, querfeldein, einfach nur immer der Nase nach – wie wunderbar. Der Boden ist etwas sumpfig, doch selbst knöchellief durchs Wasser zu waten, stört mich nicht und hält mich auch nicht davon ab, mir meinen eigenen Weg zu suchen. Wie habe ich das vermisst: nur den eigenen Atem und das schmatzende Geräusch meiner Trekkingstiefel in tiefem Gelände zu hören und den Wind auf dem verschwitzten Gesicht zu spüren. Das ist mein Element. Hier fühle ich mich richtig wohl. Mir kann nichts passieren. Dieses Gedankenspiel und Körpergefühl wieder zu erleben, habe ich auch wegen der corona-bedingten Reiseeinschränkungen viel zu lange vermisst. Diese Qualität muss wieder essentieller Teil meines Lebens werden und keine Ausnahmesituation darstellen.

Gedankenverloren stapfe ich durchs Gelände und bin mir sicher, irgendwo einen passablen Abstieg zum Fjord zu finden. Und genauso ist es dann auch. Kaum biege ich um die Ecke des markanten Basaltfelsens, der mir als Orientierungspunkt diente, sehe ich eine kleine Steinplattform, auf der ich mich für eine kurze Pause niederlasse. Von hier aus kann ich die ganze Bucht überblicken, die sich ein tief unter mir ausbreitet. In der Ferne sehe ich die Dächer des Örtchens Seydisfjördur in der Sonne glänzen. Ein unerwartet toller Aussichtspunkt und ein erhabener Blick. Selten mir eine mitgebrachte Zimtschnecke so gut geschmeckt, wie in diesem Moment. Ich entdecke eine ganz schmale, nur fußbreite Linie durch die Blaubeerbüsche unterhalb meines Pausenplatzes. Es kann nur ein Weg nach unten sein und so ist es auch. Nach vier Stunden treffe ich erschöpft und glücklich wieder am Ausgangsort meiner Wanderung ein. Ich bin mir bewusst, wie besonders diese Stunden in Islands großartiger Natur waren, die ich nur für mich allein hatte, und werde noch lange davon zehren.