KUKENAN – TRÄUME AUS STEIN

Wie oft schon wurde ich von Freunden gefragt, welcher Ort auf Erden der Schönste, der Beste, der Besondernste wäre? Natürlich ist das unmöglich zu beantworten und doch – wäre ich gezwungen eine ewige Hitliste der spektakulärsten Plätze der Welt aufzustellen, die ich je gesehen habe – stünde der Name dieses Berges hier ganz oben. Er ist ein wahres Wunderwerk der Natur, absolut einzigartig und dennoch nahezu unbekannt. Denn welcher noch so versierte und gut informierte Weltenbummler oder gar Bergsteiger hätte je vom „Kukenan“ gehört?

Drei Gründe führe ich hierfür an. Einerseits seine isolierte Lage im schwer zugänglichen Dreiländereck Venezuela, Brasilien und Britisch Guyana. Zum anderen ist es der Tatsache geschuldet, dass das Erreichen der Spitze ohne Einsatz von Hubschraubern sehr aufwändig und je nach Jahreszeit extrem gefährlich ist. Drittens ist eine Besteigung dieses heiligen Ortes der Pemon-Indianer schlichtweg untersagt, es sei denn, man erhält eine Ausnahmegenehmigung. Ich fühle mich überglücklich und privilegiert, zu dem kleinen exklusiven Kreis dieser Menschen zu gehören.

 

Ab der letzten Piste im Süden Venezuelas absolvieren wir mehrere Tage leichten Trekkings bis wir den Fuß einer mächtigen Felswand erreichen, die wie eine uneinnehmbare Festung hunderte von Metern aus der Amazonas-Tiefebene emporragt. Das ist der Kukenan – Zwillingsfelsen des benachbarten Roraima-Massivs, das ich bereits zehn Jahre zuvor erklimmen konnte. Aber wie sollen wir da nur hoch kommen? Unsere kleine Begleitmannschaft vom Stamm der Pemon kennen sich aus. Sie führen uns auf verschlungenen Pfaden durch dichteste Vegetation, wir kriechen teilweise auf dem Bauch über schmale Felssimse und neben uns gähnen Abgründe von mehreren hundert Meter.

Als nichts mehr geht, weder aufrecht noch auf allen Vieren, müssen wir unsere rudimentäre Kletterausrüstung einsetzen und seilgesichert die nackten Felswände hochklettern.

 

Schweißausbrüche, Atemnot und Gänsehaut sind unsere permanenten Begleiter, aber jeder Meter und jede Minute der Angst-Überwindung haben sich gelohnt. Oben erwartet uns eine überwältigend andere Welt mit schier unvorstellbaren Landschaftsformationen. Wir haben es geschafft. Nirgends sonst auf der Welt gibt es eine solche Fülle an steinernen Fantasiegebilden mit bizarren Körpern, eleganten Bögen, fragilen Brücken und ergonomischen Fensteröffnungen. Je nach Lichteinfall erscheinen die Silhouetten wie überdimensionale versteinerte Tierfiguren und Dinosaurier. Lies hier den ganzen Artikel: reisen-bis-ans-ende-der-welt.com/wp-content/uploads/2019/11/Reisebericht-Venezuela-32.pdf.

Tagelang unternehmen wir stundenlange Wanderungen und Klettertouren über rutschige Klippen und durch tiefe Canyons und erkunden von unten und von oben die waghalsigsten Steinkonstruktionen der Natur. Staunend betrachten wir immer aufs Neue diese faszinierenden Balanceakte aufgetürmter Felsen, die sich den Gesetzen der Schwerkraft zu widersetzen scheinen. Ich taumele wie berauscht durch dieses überirdisch anmutende Labyrinth, schlüpfe durch jede Felsspalte, erklimme wie ein von Freude überschäumendes Kind auf dem Spielplatz jeden majestätischen Steinfinger und finde immer wieder neue skurrile Formen vom perfekten Baumeister Natur.

Es scheint, als ob Ernst Barlach, Henry Moore und Giacomo Giacometti hier in Symbiose von riesig groß bis winzig klein die real existierenden Vorlagen für ihre einzigartigen bildhauerischen Kreationen gefunden hätten. Diese Träume aus Stein sind eine Inspiration zum Verlieben.

Wie kann es nur sein, dass diese faszinierende Welt bisher großteilig verborgen blieb? Eigentlich bin ich froh darüber, denn die fragilen Strukturen und das sehr empfindliche Ökosystem des Kukenan würde einer touristischen Öffnung nicht gewachsen sein. Und so bleibt die Erkundung wenigen Insidern vorbehalten und der Kukenan wird bewahrt.