Was ist es, dass uns immer wieder aufbrechen lässt, dass eine Reise an die andere reiht, dass das Zuhause zu einer Zwischenstation macht? Als ich noch im Fashion Wholesale Business war, flog ich mindestens jede zweite Woche in ein anderes Land, in eine andere Hauptstadt: Moskau, London, Mailand, Kuwait, New York. Manchmal wachte ich früh auf und wusste gar nicht mehr, wo ich mich überhaupt befand. Einmal hatte ich ein Hotel sogar doppelt gebucht.
Bevor ich nach Hause kam, organisierte ich schon die nächste Fahrt. Wenn ich die Stufen zu unserem Loft über der alten Autowerkstatt hochstieg, dann dachte ich an all das, was ich als nächste im Ausland zu tun habe, statt an meine Familie, die oben auf mich wartete, oder irgendwann nicht mehr richtig wartete.
Rastlosigkeit! Eine Krankheit, die den meisten ManagerInnen bekannt ist, die aber auch bei den Vielurlaubern um sich greift. Sie führt dazu, dass man nichts mehr peilt, ein Fremder ist, wo man doch im tiefen Herzen dazugehören möchte, und ein Blinder, wenn es darum geht, intensive Eindrücke zu sammeln. Als „Reise-Junkie“ in Geschäftsangelegenheiten brauchte ich dringend eine Eigen-Therapie: Ankommen! Wo immer das ist. Und die Situation genießen, in der ich mich gerade befinde, anstatt die Gedanken und Sinne immer vorauseilen zu lassen.
Ich hatte einen ausgesprochen weisen und klugen Doktorvater, der mir als der Ungeduldigen immer vorpredigte, dass ich Sehen lernen muss, dass es für mich einer der wichtigsten Gründe ist, warum ich Kunstgeschichte studiere: durch die Betrachtung der Kunst die Wahrnehmung der Welt schärfen. Orte und Plätze werden damit nicht mit Häkchen versehen: besucht, next! Sondern sie werden immer wieder neu wahrgenommen, im Spiel des Lichts am Morgen, am Nachmittag und am Abend, mit vielen Menschen, mit wenigen Menschen.
Wir dürfen dabei gern an Paul Cézannes Mont Sainte-Victoire denken, den er immer und immer wieder malte, oder an Claude Monets (1840 – 1926) Heuhaufen mit Farben, die das Licht zu unterschiedlichen Zeiten festhalten. Diese Werke gehören zu den Inkunabeln der modernen Kunstgeschichte, entstanden 1890 bei einer Spaziergang durch die benachbarten Felder.
Ich bin auf Entdeckungsreise und die geht, wie wir alle wissen nach außen und nach innen. Einer der schönsten Momente, an die ich mich von meinen Reisen erinnere, war ein ganzer Tag, den ich mehr oder weniger auf einer Bank sitzend irgendwo an einem belebten Ort auf der griechischen Insel Samos verbrachte. Ich habe die Leute beobachtet, wie sie vorbei eilten oder schlenderten, wie sie auf ihren Mofas und kleinen offenen Autos die Straße entlang knatterten, konnte sehen, wie sie sich liebevoll an der Hand hielten, nach mir umblickten oder auch nicht, ob sie sprachen, lachten, grimmig dreinschauten. Ich habe mir ausgedacht, wie ihre Leben seien, wie ich sie verändern könnte, habe manche ein wenig hübscher gemacht in meiner Phantasie, ihnen Charaktere zugefügt, kleine Geschichten entwickelt. Ein ganzer Tag auf Samos mit mir zwischen all den fremden Einheimischen, dem Gehupe, dem lauten Stimmengewirr, und ich war mir plötzlich ganz nah, ruhig und still.
Es gibt noch so einen Ort, hier direkt vor der Haustür, den ich intensiv mit kurzen Momentaufnahmen genieße: die steinerne Brücke über der Alster. Ich fotografiere sie morgens auf dem Weg in der Milchstrasse, wo ich meinen schönen Concept Store und Salon besitze, und ich fotografiere sie abends und spät nachts, wenn ich wieder zurückkehre. Es ist immer wieder anders, das Licht, die Wolken, das Geflimmere der Innenstadt, die Ruderer… Ich nenne es „Brücke 1, 2, 3, … ∞“. Es schärft mein Sehen, es läßt mich träumen von dem Hiersein und dem Wegfahren. Ich kann das Jetzt wieder fühlen.