REISEN IN DIE KINDHEIT

Birgit Gepostet am

Corona Meldungen aus allen Ecken der Welt, Fernreisen werden storniert, Menschenansammlungen gemieden, selbst der Ausflug ins nahegelegene Museum überdacht. Eine Portion Hysterie ist sicherlich dabei, eine Portion Vorsicht jedoch unerlässlich. Wie so ein paar kleine hübsch anzusehende Viren doch unseren Alltag komplett verändern können. Nehmen wir es mal als lang versäumte Chance für eine Reise ins Innere und in unsere Vergangenheit, als der Ostseestrand noch der Sehnsuchtsort schlechthin war, als sich Meer und Himmel so verschmolzen, dass die Unendlichkeit gefühlter Bestandteil unserer kindlichen Realität war.

Ich sitze wie so oft, wenn ich telefoniere oder eine kurze Auszeit brauche, in der MILCHTRASSE 11 in meinem olivgrünen Diamond Chair von Bertoia aus den 1970er Jahren. Es ist Sonntag, die Tür vorne ist zwar einen kleinen Spalt offen, aber es traut sich eh kaum einer hinein. Meine Ruhe wird nicht gestört und somit kann ich ganz unverhohlen auf „Reisen“ gehen:.

Ich höre das Kreischen der anderen Kinder am Strand, rieche den Duft der klebrigen Seesterne im Catcher und das Sonnenöl auf der Haut. Kreuzfahrtschiffe werden an der Leine hinter sich hergezogen … Wir sind drei, wir sind fünf, sieben, wir sind neun Jahre alt, wir verbringen den Urlaub im Wohnwagen am Meer wie jedes Jahr, Howachter Bucht, Weißenhäuser Strand.

Die Wellen plätschern an den gelbschmuddeligen Sand und lassen eine kleinen Linie von Seetang und Muscheln zurück. Sommerferien, so wie sie viele andere deutsche Familien erleben in den 60er und 70er Jahren. Eigentlich spießig, aber das Wort hatte ich damals noch nicht in meinem Vokabular und insofern konnte ich zwanglos genießen, was ich wohl mittlerweile nicht mehr so genießen würde. Heute fällt uns bei „Reisen bis ans Ende der Welt“ spontan etwas ganz anderes ein, Fernziele. Aber damals umfasste mein Ende der Welt das nach Salz riechende Reich bis zum Horizont und zurück zu den bunten Bällen, Eimerchen und Schaufeln, die in Sepia auf alten Fotos festgehalten sind.

Keine Ahnung, wie lange ich so in meiner Ecke gesessen habe? Es fühlte sich nach einer kleine Ewigkeit an, war es irgendwie auch. Ich recke und strecke mich, auf in das Jetzt mit Outfits, Kollektionen, Zahlen und Plänen, dem ständigen Druck erfolgreich zu sein. – Wer macht mit bei dem Experiment, die Erlebnisse aus der Kindheit nicht nur zu erinnern, sondern auch zu fühlen, zu riechen, zu hören? Wohin ging die Reise?

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