Mir gefallen diese Beiträge, in denen sich ein Dialog anbahnt zwischen Christian, dem Extrem-Reisenden, und mir, der Fashion-Designerin. Es geht um ein Abgleichen und Abgrenzen, wer denkt wie, wo gibt es Übereinkünfte, wo läuft es auseinander, welche grundsätzlichen Qualitäten werden gefordert? Wir sprechen von einem Abenteuer, das unterschiedlicher nicht sein kann: Für den einen geht es um eine Expedition in die Ferne, für den anderen um eine Reise in die Phantasie, ausgedrückt mit den Mittel der Mode.
Wie gelange ich zu meinem „Expeditionsziel“, wie entsteht eine Kollektion? Unsortiert beginne ich zu sammeln, sauge auf, versuche am Puls der Zeit zu sein, in mich und das Leben hineinzuhorchen. Was wird Trend in einem Jahr? Welche Fragen werden wir uns in einigen Monaten stellen, was treibt uns um? Noch wird nichts notiert, keine Listen mit Stichworten geschrieben. Ich löse mich auf in einem assoziativen Denken und Sehen. Geforderte Qualitäten: instinktiv, intuitiv, neugierig.
Und irgendwann, Wochen sind darüber vergangen, bekomme ich etwas eingeflüstert, das sich in meinem Hirn verfängt, um das meine Ideen zu kreisen beginnen. Manchmal ist es ein Land, das als Stichwort dient, so wie „Holland“, stellvertretend für Zuviel Wasser, Zuwenig Wasser. 2017 waren es die „Eisbären im Sommer“. Geforderte Qualitäten: komplexes Denken, Phantasie.
Es kann auch eine Person sein, so wie Jean de La Fontaine, der französische Fabelerzähler, der mit seinen symbolhaften Geschichten versuchte, die Welt zu erklären. Oder der Filmpionier Georges Méliès, der Zauberer, mit seiner „Unmöglichen Reise zu Sonne“ und dem „Königreich der Feen“. Mich beschäftigt schon eine Weile Kopernikus, der die Sonne anhielt und die Erde in Bewegung setzte. Ist das Thema gefunden, wie kann ich es nun in eine internationale High-Fashion Kollektion umsetzen? Geforderte Qualitäten: Kreativität.
Es beginnt die systematische Recherche. Wie eine (Kultur-) Wissenschaftlerin lese ich Bücher, Artikel, führe Gespräche, mache Aufzeichnungen, entwickele Gedankenspuren, denen ich instinktiv folge. Austausch mit Stoffdesignern, Materialproben, Farbauswahl. Unzählige Entscheidungen müssen getroffen werden, die sich der Story-Line, dem roten Faden unterwerfen. Passt alles zusammen, ist es schlüssig, wird es begriffen? Und immer wieder taucht die Frage nach der Relevanz auf. Wie kann ich mit dem, was ich tue, einen eigenen Kosmos kreieren, der in unsere Zeit passt? Geforderte Qualitäten: mutig, unbeirrbar, kreativ, strategisch, „decisive“.
Was dann folgt, ist harte Arbeit: Materialauswahl, Schnitte, Prototypen, Budgets. Linke Hirnhälfte, rechte Hirnhälfte, alles läuft auf Hochtouren. Abbrechen ist nicht möglich, es wäre ein finanzielles Fiasko. Es muss gelingen, der Druck ist enorm. Und trotzdem darf es dazwischen immer wieder die Lücke geben, aus dem gesetzten Rahmen hinauszuspringen, um alles infrage zu stellen und wieder anzupassen. Wie entwickeln sich kulturelle und gesellschaftsrelevante Aspekte über die Monate hinweg? Läuft es in meine Richtung? Habe ich die richtigen Antworten gefunden? Bin ich Trend? – Was für ein Abenteuer. Geforderte Qualitäten: Disziplin. Der Mut zum Zweifel. Beweglichkeit.
Und dann kommt so etwas wie Corona und potenziert noch einmal, was die Mode sowieso abverlangt: schnelles Denken, flexibles Denken, bereit für Sprünge, Wandel, Veränderung, hohes Risiko. Fashion, so wurde ich immer wieder gewarnt, ist eines der schwierigsten „Abenteuer-Reisen“, zweimal im Jahr, dreimal im Jahr und mittlerweile permanent.