BERG DER KREUZE – HORT DER HOFFNUNG

Kürzlich sprach ich mit einer Freundin über die individuellen Ansätze, der scheinbaren Perspektivlosigkeit in Zeiten von Corona etwas Positives entgegen zu setzen. Sie schilderte mir, dass sie Trost darin findet, sich auf ihren Glauben zurück zu besinnen. Das erinnerte mich an einen äußerst ungewöhnlichen Platz im Baltikum: Der „Berg der Kreuze“ ist ein einzigartiger Ort des Glaubens und der Hoffnung.

Fährt man von der lettischen Hauptstadt Riga zwei Stunden südlich, so erreicht man mitten im Nirgendwo der endlosen Felder von Littauen das beschauliche Städtchens Šiauliai. Der „Berg der Kreuze“, eher ein kleiner Hügel, liegt ca. 12 km ausserhalb und ist nicht zu verfehlen. Der Reiseführer preist den katholisch geprägten Wallfahrtsort als besondere Sehenswürdigkeit an und das machte mich neugierig. Warum sollte nur eine große Ansammlung von Kreuzen Gläubige und Touristen aus ganz Europa anziehen?

Wir ignorieren die Verkaufsstände am Informationszentrum und erklimmen direkt die schmale Treppe aus Holzbohlen, die über den sattelförmigen Doppelhügel führt. Langsam erschließt sich mir die Einzigartigkeit des Ortes. Mein Blick schweift über ein wahres Meer von mittlerweile über 50.000 Kreuzen in allen vorstellbaren Größen und Ausführungen.

Wir laufen langsam und schweigend durch dieses unfassbare Labyrinth von Kreuzen, oftmals kombiniert mit christlichen Skulpturen, Rosenkränzen und Heiligenbildern. Viele Kreuze sind von Wind und Wetter gezeichnet, einige schon umgekippt von der Last weiterer Kreuze und Ketten, die an ihnen hängen. Besonders die liebevollen Einzelanfertigungen in allen vorstellbaren Materialien und Handwerkstechniken haben es mir angetan und ich finde immer neue Zeugnisse spiritueller Hingabe.

Je länger ich verweile, desto mystischer erscheint mir der Ort, was durch das leise Geläut bzw. permanente Klappern der Kreuze, die schon bei leichtem Wind aneinander schlagen, noch verstärkt wird. Es ist total skurril, aber ich fühle mich fast etwas eingeschüchtert und schwanke zwischen Ehrfurcht und Gänsehaut.

Der „Berg der Kreuze“ gilt ursprünglich als mittelalterlicher Burghügel, vermutlich auch eine Gebets- und Opferstätte, der 1348 von Kreuzrittern zerstört worden sein soll. 1863 rebellierten Polen und Litauer gegen das zaristische Regime des Russischen Reiches, wobei die Aufstände blutig niedergeschlagen wurden. In Gedenken an die Gefallenen begannen die Angehörigen, Kreuze aufzustellen. 1940 standen nur etwa 400 Kreuze auf dem Hügel. Als nach Stalins Tod 1953 die Überlebenden aus Sibirien zurückkehrten, stellten sie Kreuze zur Erinnerung an die im Gulag Verstorbenen auf. Der litauische Wallfahrtsort wurde zu einem politischen Symbol gegen die kommunistische Herrschaft der Sowjets in Litauen.

Die Kommunistische Partei Litauens liess den angeblich heiligen Ort 1961 mit Bulldozern zerstören. Doch bereits in der nächsten Nacht wurden neue Kreuze errichtet. Weitere Zerstörungsaktionen des Regimes als Kreuzzug der Kommunisten gegen den „Berg der Kreuze“ blieben erfolglos und der Ort wurde zunehmend zum Symbol des nationalen Widerstands.

Seit der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit Litauens 1991 und insbesondere nach dem Besuch des Papstes Johannes Paul II. im Jahr 1993 gilt der Kreuzberg international als heiliger Ort für Katholiken, was man an den Kreuzen mit Inschriften aus aller Welt erkennen kann. Jedes Jahr wächst der Berg der Kreuze unaufhaltsam weiter – ein ebenso verstörender wie auch ergreifender, in jedem Fall aber faszinierender Ort.