Meinem Naturell gemäß, beginne ich sogleich mit einer Provokation, indem ich aus dem Roman „Unrast“ (2007) der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk zitiere, die 2018 den Literaturnobelpreis erhielt (verliehen 2019):
„Beschreiben ist wie benutzen – es verschleißt. Die Farben verblassen, die Kanten werden stumpf, das Beschriebene verblasst allmählich und verschwindet. Das betrifft insbesondere Orte. Die Reiseliteratur hat große Verheerungen angerichtet, wie eine Invasion, eine Epidemie. Die Baedekers haben den größten Teil der Welt ein für alle Mal zerstört, in Millionen von Auflagen und unzähligen Sprachen gedruckt, haben sie Orte geschwächt, sie festgenagelt und benannt und die Umrisse verwischt.“ (Unrast, Seite 82).
Foto und Kommentar Christian Rommel: Hua Shan in China. Es ist einer der fünf heiligen Berge in der Provinz Shaanxi, wo ich 1992 studiert habe. Das Gebirgsmassiv ist bis zu bis 2155 m hoch. Berühmt sind die steilen, malerischen Felswände, Bergpfade und Klettersteige auf die Gipfel. Was eine Wanderung durch diese fantastische Berglandschaft auszeichnet, ist die Ruhe und Stille, die Möglichkeit zur Einkehr, das Innehalten an den Klöstern, Pagoden, Tempeln, Brücken und Toren, das Beten, das Meditieren und die Zwiesprache mit der Natur. Durch den Massentourismus ist es jetzt laut, dreckig und überfüllt. Der ursprüngliche Charme der einzigartigen Landschaft und die spirituelle Aura sind völlig verlorengegangen.
Mit den Orten ist es wie mit der Kunst. Die Mona Lisa von Leonardo Da Vinci ist einer indifferenten Menschenansammlung ausgeliefert, die davor steht und ein Häkchen macht: Mona Lisa, gesehen! Großen Werkschauen von Picasso, Matisse oder Tizian geht es nicht anders. Die Besucher entsteigen Bussen, strömen in die Museen, empfinden nichts und versperren uns anderen, die wir wertschätzen, die Sicht. Aber sie waren da und berichten davon, ähnlich wie man über das Wetter erzählt, belanglos!
Vor Jahren besuchte ich die Gemäldegalerie Alter Meister in Dresden mit der „Madonna mit dem Kind“ (1437) von Jan van Eyck. Der Triptychon gehört für mich seit meiner Studienzeit zu einem der wichtigsten Kunstwerke. Ein Erlebnis davor zu stehen! War es nicht! Um mich herum schwatzende Touristen. Es ist ein sehr kleines Bild (33 x 27,3 cm). Ich habe mich dicht davor gestellt, die anderen weggedrängt. Es war meins, für einen sparsamen Moment. Immerhin.
Zurück zum Reisen: Christian spricht in seinem letzten Blogbeitrag von dem restriktiven Reisen der Zukunft, stellt in Frage, ob man einen Ort besuchen sollte oder nicht, um ihn zu schützen oder besser zu beschützen. Er führt als Alternative das virtuelle Reisen an, mit Vorträgen, Literatur, digitalen Medien. Dafür braucht es jedoch zwei Dinge, und wieder bin ich nah bei der so komplex und widerspenstig schreibenden Tokarczuk:
Die Spuren müssen verschleiert werden, die Namen nicht genannt und dann bedarf es des „mysteriösen, zärtlichen Erzählers„, wie ihn die Literatin in ihrer eindrucksvollen Rede in Stockholm nannte. Jemand, „der die beschädigten Fragmente zur Idee des ‚unus mundus‘, der einen Welt wieder zusammenführt.“ (Olga Tokraczuk, aus der Nobelpreisrede, 2019). Es ist ein Erzähler, der die Zusammenhänge versteht, der die Aura des Ortes in seinen Worten heraufbeschwören kann, jemand, der nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch die dazugehörigen emotionalen Werte, mit leisen Schwingungen zwischen den Sätzen. Halten wir Ausschau noch diesem empfindsamen liebevollen Narrateur.
Der Roman UNRAST ist im Kampa Verlag erschienen. Es ist ein anspruchsvolles Buch über die Sehnsucht, sich in die Welt zu begeben, um ein Teil von ihr zu werden. Eine fiktive Geschichte über das Reisen in vielzähligen Versatzstücken. Der Leser geht verloren, und den „geheimen Fahrplan“ erahnt man erst im Verlauf der Seiten. Die ganze Welt in einem Roman.