WEITSICHT – DAS MEER

Birgit Gepostet am

Wir Menschen sind alle unterschiedlich. Die einen essen lauwarm, für die anderen müssen Speisen und Getränke heiß sein. Ähnlich ist es mit dem Duschen, die einen lieben es heiß, die anderen warm oder sogar eiskalt. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Es sind Charakteristika, die tief in unserem Wesen verankert sind. Mediziner bauen darauf ihre Diagnosen und Heilungsmethoden. Ich gehöre zur Lauwarm-Fraktion, was das Essen anbelangt, und zur Kalt-Abteilung, was Duschen, Baden und Schwimmen betrifft. Schlichtweg: Misch-Masch-Typ.

Weiter geht es mit der Unterscheidung von Weitsicht und Nahsicht, bislang als Typologie in der Human-Wissenschaft zu kurz gekommen. Aber die Kunstgeschichte weiß es besser, und Christian und ich können einmal mehr unsere Andersartigkeit beschreiben. Der eine braucht den freien Blick, nennen wir ihn mal den „Horizont“-Menschen, der andere sucht das undurchdringliche Buschwerk, das wäre der Dschungel-Mensch.

Ich gehöre zur ersten Spezies, fühle mich wohl, wenn meine Augen den Horizont abtasten. Meine Seele öffnet sich, wenn ich über das Meer schaue, nichts meine Sicht verstellt. Dann beginnen meine Gedanken zu schweben. Angesichts der Weite bin ich gleichzeitig klein und groß. Die Möglichkeiten scheinen unendlich. Der Philosoph Karl Jaspers (1883 – 1969) schrieb in „Was ist Philosophie?“, was ich nicht besser ausdrücken könnte, deswegen zitiere ich ihn etwas ausführlicher:

„Das Meer ist die anschauliche Gegenwart des Unendlichen. Unendlich die Wellen. Immer ist alles in Bewegung, nirgends das Feste und das Ganze in der doch fühlbaren unendlichen Ordnung. Das Meer zu sehen, wurde für mich das Herrlichste, das es in der Natur gibt. Das Wohnen, das Geborgensein ist uns unentbehrlich und wohltuend. Aber es genügt uns nicht. Es gibt dieses andere. Das Meer ist seine leibhaftige Gegenwart. Es befreit im Hinausgehen über die Geborgenheit, bringt dorthin, wo zwar alle Festigkeit aufhört, wir aber nicht ins Bodenlose versinken. Wir vertrauen uns dem unendlichen Geheimnis an, dem Unabsehbaren, Chaos und Ordnung.
Ich weiß nicht, wieviel Zeit meines Lebens ich im Anschauen des Meeres verbracht habe, ohne mich zu langweilen. Keine Welle ist der anderen gleich. Bewegung, Licht und Farben wandeln sich ständig. Herrlich, sich in den reinen Elementen zu bewegen, in Sturm und Regen an der Brandung entlangzuwandern, ohne Landschaft, ohne Menschen.

Im Umgang mit dem Meer liegt von vornherein die Stimmung des Philosophierens. So war es mir unbewußt von Kindheit an. Das Meer ist Gleichnis von Freiheit und Transzendenz. Es ist wie eine leibhaftige Offenbarung aus dem Grund der Dinge. Das Philosophieren wird ergriffen von der Forderung, es aushalten zu können, daß nirgends der feste Boden ist, aber gerade dadurch der Grund der Dinge spricht. Das Meer stellt diese Forderung. Dort ist keinerlei Fesselung. Das ist das unheimlich Einzige des Meeres.“

Ein Teil dieses Zitates habe ich an die Wände der MILCHSTRASSE 11 schreiben lassen. Hoffentlich werden es neue Mieter nach mir nicht einfach übermalen.

Immer schon hat der Blick über das Meer zum Horizont die Künstler nicht nur angeregt, sondern sie animiert, ihn symbolisch zu überhöhen. Eines der wichtigsten Meisterwerke hierzu befindet sich in der Alten National Galerie in Berlin. Es ist der „Mönch am Meer“ (1808/1810) von Caspar David Friedrich. Das Gemälde wurde gerade aufwendig restauriert und anschließend komplett neu gedeutet. Friedrich malte keineswegs ein düsteres Szenario des Untergangs, wie es die vergilbten Firnissschichten glauben ließen, sondern er schuf eine für die Deutschen ungewöhnliche Zuversicht. Seine Weltsicht und die Romantik waren geprägt vom Aufbruch, bis das Leben Mitte des 19. Jahrhunderts wieder in die Kleingeistigkeit des Biedermeiers zurückfiel.

Caspar David Friedrich (1774 – 1840), Der Mönch am Meer (1808/1810). Alte Nationalgalerie Berlin

Ich habe Glück, das Meer und der Horizont sind nur wenige Schritte von meinem Geschäft in Kampen auf Sylt entfernt. Vielleicht sollten wir uns hier zum nächsten Salon treffen für die Weit- und die Nahsicht.

Wie ist es nun mit dem Dschungel? Wie öffnet er für Christian die Sinne und die Seele, wenn der Ausblick nach vorne versperrt ist? Welche Assoziationen entstehen? Und wie fühlt sich der sonst Vielreisende in diesen Monaten ohne den Nah-Blick auf das endlose Grün?

 

 

 

 

 

 

 

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